Warum eine pauschale Kastrationspflicht für Hündinnen nicht nötig sein darf!

[Die Kastration der Hündin im Wandel der Forschung]

Es soll nun um eine Gruppe von Sexualhormonen gehen - den Oestrogenen. Der bekannteste Vertreter ist das Estradiol mit einer Vielzahl an Funktionen.
Gebildet wird es hauptsächlich in den Eierstöcken, als Umbauprodukt des Testosterons.
Vorrangig ist es an der Ausbildung sexueller Geschlechtsmerkmale, der Regulation von Sexualphasen wie z.B. der Läufigkeit bei Hündinnen, der Anpassung von Gebärmutter und deren Mund an eine Trächtigkeit sowie dem indirekten Auslösen des Eisprungs beteiligt.
Darüber hinaus ist es u.a. für den Abschluss des Knochenwachstums durch Schluss der Wachstumsfugen verantwortlich und hat eine stimulierende Wirkung aufs Immunsystem.
Beim Menschen scheint, nach derzeitigem Stand der Forschung, ein Oestrogenabfall nach der Menopause eine Osteoporose mitauszulösen.

Nun aber endlich zu dem Teil, der den mit Abstand meisten Lesern unter den Nägeln brennt... Ist die Kastration einer Hündin sinnvoll? Was gilt es bei der Abwägung zu beachten?

Das Internet ist voll von verschiedensten Meinungen zu diesem Thema.
Die Einen lehnen den Eingriff kategorisch ab, die Anderen hätten gerne jedes Tier bereits mit Verlassen des Mutterleibes kastriert.
Und da dieses Thema hier schon so oft angefragt und mitunter sehr emotional diskutiert wurde, will ich hier auch mal (m)eine studierte Meinung kundtun...
Wer allerdings hier den Non-Plus-Ultra-Tipp erwartet, wird vermutlich eher enttäuscht werden, denn den gibt es nicht!
Nur eines schonmal vorweg: wer lediglich mit der für gewöhnlich 2x pro Jahr auftretenden Läufigkeitsblutung nicht klar kommt, sollte sich einfach keine Hündin zulegen!

Jetzt aber mal sachlich weiter...
Auch in der Tiermedizin schreitet die Forschung stetig voran und immer wieder liefern groß angelegte Studie neue Ergebnisse, die uns erlauben das Leben unserer Patienten zu verlängern bzw. Umstände besser einschätzen zu können.
Zum Thema 'Hündinnen-Kastration - pro/contra' gibt es alleine so viele Studien, dass es hier den Rahmen sprengen würde sie überhaupt aufzuzählen. Es gibt darunter exzellente wie auch vollkommen wertfreie Exemplare.
Aber sowohl das Institut bzw. die Autoren als auch die Anzahl an Probanten sind zumindest Hinweise über den Grad der Seriösität einer Studie...

Nach früherem Verständnis galt eine unkastrierte Hündin im Alter als tickende Zeitbombe - sei es hinsichtlich Gesäugetumoren oder Gebärmuttervereiterungen (siehe Artikel 4 dieser Reihe). Man ging davon aus, dass das Risiko solcher Erkrankungen um einen gewissen Prozentsatz (egal wie groß oder klein) pro durchlaufener Hitze ansteige.

Komplett widerlegt ist dieser Umstand nicht und weiterhin unbestritten ist auch, dass ein entferntes Organ nicht mehr entarten kann - prominentes Beispiel für diese Prophylaxe ist die Schauspielerin Angelina Jolie, die sich aufgrund ihrer familiär-genetischen Vorbelastung beide Brüste hat amputieren lassen.
Aber deshalb einer Hündin beide Gesäugeleisten (10 Brustkomplexe!) prophylaktisch zu entfernen? Etwas übers Ziel hinaus, oder etwa nicht?

Laut diverser Literaturquellen ist die Tumor-Prophylaxe-Wirkung besonders groß wenn das Tier vor der ersten Läufigkeit kastriert wird - in wie weit dies stimmt kann ich nicht beurteilen. Was jedoch bei solch sogenannten 'Frühkastraten' (sehr beliebt in den USA) auffällt ist, dass diese Tiere in ihrer geistigen Entwicklung irgendwo im menschlich vergleichbaren Pupertätsalter hängenbleiben. Sie werden daher nie die volle psychische Reife erlangen, die ein erwachsenes Tier aufweist.

In den vergangenen Jahren wurden jedoch u.a. Studien veröffentlicht (i.d.R. Monorassestudien wie beispielsweise zum Golden Retriever von Torres de la Riva et al. aus dem Jahre 2013), die zum Schluss kommen, dass die Kastration einer Hündin eine Palette an Erkrankungen (im Alter) begünstigen könnte - dazu sollen beispielsweise Kreuzbandrisse, die Schilddrüsenunterfunktion sowie Knochen- und Gefäßtumore zählen.

Natürlich gibt es dazu auch wieder diverse Gegenstudien, aber die Ungewissheit bleibt.
Zu den möglichen (aber durchaus seltenen) Nebenwirkungen einer Kastration, die weitestgehend unbestritten sind, zählen:
- Harninkontinenz (je schwerer der Hund desto höher das Risiko; ebenso bei gleichzeitiger Entfernung der gesamten Gebärmutter [Ovariohysterektomie] und die dadurch wegfallende Hormonrestaktivität der beiden Gebärmutterhörner)
- Ausprägung eines sogenannten Babyfells (eher bei langhaarigen Rassen)
- Übergewicht (allerdings nur bei fehlender Anpassung des Kalorienbedarfs an den geänderten Stoffwechsel)

Der früher beabsichtigte Effekt der Wesensveränderung tritt auch nicht immer wie gewünscht ein. So kann der Eingriff bei einer unsicheren bzw. angstagressiven Hündin unter Umständen auch zu einer Verschlimmerung dieses Verhaltens führen.
Allein schon verhaltenstechnisch ist die Kastration der Hündin daher eine absolute Individualentscheidung. Erziehungsfehler lassen sich dadurch übrigens ebensowenig korrigieren wie beim Rüden - aber dies nur am Rande, da sich bereits der erste Artikel dieser Serie damit beschäftigt hat.

Man darf nicht vergessen, dass nach Paragraph 6 des Tierschutzgesetzes gilt: "Verboten ist das vollständige oder teilweise Amputieren von Körperteilen..."
Eine Ausnahme stellt jedoch der Eingriff nach tierärztlicher Indikation dar - z.B. bei einer Gebärmutterentzündung oder Eierstocksveränderungen wie Tumoren und Zysten. Nochmal zur kurzen Erinnerung: nicht zur Blutungsvermeidung!
Allerdings kann die Kastration durchaus bei Hündinnen mit hormonellen Imbalancen in Erwägung gezogen werden, da diese beispielsweise durch wiederkehrende Scheinschwangerschaften einem stark erhöhten Stresspegel ausgesetzt sind. Dabei sinkt bei betroffenen Tieren stressbedingt die Immunabwehr, was neben den Verhaltensauffälligkeiten wie Nestbau und dem sinnlosen Milcheinschuss ins Gesäuge durch die ausgelöste Immunsuppression zu multiplen Folgeerkrankungen, wie beispielsweise dem Befall von Hautmilben wie Demodex o.ä., führen kann.

Und damit komme ich zur eigentlichen Hauptaussage dieses Artikels:
Jedes Tier und somit auch jede Hündin ist ein Individuum und muss auch genauso betrachtet werden - live und in Farbe. Pauschalisierungen sind da absolut nutzlos. Da hilft es auch nichts solch bedeutungsschwere Fragen online für sein Tier mit wildfremden Menschen zu diskutieren. Bestimmt will man dort zwar nur das Beste aber woher kommt der Gedanke dies aus der Ferne mit absoluter Überzeugung sagen zu können?
Zumal sich viele Menschen leider von allzu engagierten Usern beeinflussen lassen, die ihren Standpunkt besonders wehement nach dem Kindergartenprinzip (je lauter und aggressiver desto besser) verteidigen, und dabei keine abweichende Meinung dulden.
Heutzutage glauben irgendwie viele Menschen, bloß weil sie einen Hund haben, gleich beratend auf andere Mitmenschen hinsichtlich medizinischer Themen, Ernährung und Erziehung einwirken (noch neutral ausgedrückt!) zu müssen.
"Nur weil ich seit mehreren Jahren unfallfrei Auto fahre, bin ich doch noch lange kein Fahrschullehrer"

Wie die neuen Studien die zukünftige Form der Tiermedizin beeinflussen werden, ist derzeit noch nicht abzusehen. Durch den signifikanten Rückgang an kastrierten Hündinnen scheinen die Fallzahlen an Gebärmuttervereiterungen sowie östrogeninduzierten Tumoren deutlich zuzunehmen, aber ob dadurch tatsächlich, wie mehrere Studien implizieren, viele andere Erkrankungen wie Hüftdysplasie oder Lymphome stark rückläufig werden!?! Wir werden sehn.

Man kann die endgültige Entscheidung nur nach Aufwiegung sämtlicher Pros und Contras individuell fällen. Alle Hetzkampagnen, sei es pro oder contra Kastration, sind bei der Hündin einfach nur überflüssig.
Somit bleibt nur hinzuzufügen, dass dieser Eingriff wohl überlegt sein sollte!
Wenn man übrigens mehrere Menschen um Rat fragt, darf das Ergebnis niemals demokratisch interpretiert werden, denn obwohl vielleicht drei dafür und zwei dagegen sind kann sich die 'Mehrheit' durch fehlendes FACHWISSEN oder veralteter Ansichten trotzdem irren...
Der gesamte Artikel dient nicht als Maß aller Dinge!
Er soll lediglich aufzeigen, dass sich das Bild der kastrierten Hündin (wie viele andere Themen auch) tiermedizinisch im Wandel befindet - wobei es aber leider nicht klarer sondern eher undurchsichtiger wird...

Bei Hündinnen gibt es übrigens keine Menopause - das bedeutet, dass sie bis ins hohe Alter trächtig werden können.

Es gibt durchaus medizinische Indikationen - seien sie psychischer oder anatomischer Natur - die die Kastration einer Hündin zweifelsfrei rechtfertigen!
Aber nach heutigen Erfahrungswerten ist es nur sehr schwer einzuschätzen ob sich die früher propagierte prophylaktische Kastration im beworbenen Maße am jeweiligen Induviduum 'lohnt'.

 

Tierarzt Sebastian Goßmann-Jonigkeit (aus Engelskirchen nahe Köln)

 

mehr über Dr. S. Goßmann-Jonigkeit könnt Ihr unter https://www.facebook.com/Tierarzt.Jonigkeit nach lesen.

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